Zwischen Nähe und Distanz

Als Journalistin ausgewogen aus dem Ausland zu berichten, ist nicht immer einfach. Viele Akteurinnen versuchen, die Berichterstattung zu beeinflussen – teils auch mittels Bestechung. Wie ist es dennoch möglich, aus repressiven Ländern zu berichten, ohne die Protagonist*innen in Gefahr zu bringen?

von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bilder) – in Amnesty Magazin, Juni 2024


Bozkurt im März 2022. In der türkischen Kleinstadt am Schwarzen Meer sind die Strassen voller Schlamm, und in den Häuserzeilen klaffen Löcher, verursacht von der Sturzflut, die vor sieben Monaten die Stadt verwüstete. Innert Sekunden stieg am 11. August 2021 der Pegel des Flusses Ezine um mehrere Meter. Häuser stürzten ein und wurden weggeschwemmt. Viele der rund 5000 Einwohner*innen entkamen den Fluten nur mit viel Glück. Offiziell starben 81 Menschen an diesem Tag. Hunderte weitere werden auch Monate später noch vermisst.

Martin, ein befreundeter Reportagefotograf, und ich befinden uns an diesem Märznachmittag auf einer mehrmonatigen journalistischen Fahrradreise. Wir wollen die Folgen der Klimaerhitzung und die grassierende Umweltzerstörung in verschiedenen Ländern zwischen Bern und Teheran dokumentieren – nach knapp viertausend Kilometern haben wir das Rathaus von Bozkurt erreicht.

Dort empfängt uns der AKP-Bürgermeister, von dem wir wissen wollen, wer an der Flutkatastrophe schuld war und ob man sie nicht hätte verhindern können. Hinter uns läuft der Fernseher. An der Wand hängt ein Portrait von Recep Tayyip Erdoğan. Für die Übersetzung ist ein Lehrer der lokalen Grundschule zu uns gestossen. Während des Gesprächs macht ein Fotograf Bilder – offenbar soll der Besuch der «Fahrradjournalisten aus der Schweiz» festgehalten werden. Nach vielen nichtssagenden Antworten will uns der Bürgermeister zum Abschied ein Geschenk überreichen und mit uns ein Selfie machen. Das Geschenk können wir höflich ablehnen – in unseren Fahrradtaschen hat es keinen Platz. Das Selfie lassen wir über uns ergehen.

Bei Aktivist*innen zuhause

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir auf dieser Reise Gedanken über Nähe und Distanz zu Protagonist*innen unserer Reportagen mache. Wenige Wochen zuvor besuchten wir Umweltaktivist*innen in der Westtürkei, die seit Monaten gegen eine geplante Goldmine protestierten. Wir übernachteten in ihren Zimmern, wurden bekocht und umsorgt. Das erzeugt das Vertrauen, von dem Recherchen leben. In Thessaloniki überliess uns ein Interviewpartner für eine Nacht seine winzige Wohnung. In Sarajevo oder Norditalien wurden uns Schlafplätze bei Bekannten vermittelt – Dinge, die man auf einer anstrengenden Fahrradreise im Winter gerne annimmt. Wie bleibe ich in solchen Situationen unabhängig?

Noch drängender ist die Frage: Wie schütze ich Protagonist* innen in Ländern, deren Regierungen die eigene Bevölkerung kontrollieren und bedrohen? In der Türkei sprechen wir mit Menschen, die für ihren Aktivismus bestraft wurden, aber auch mit Wissenschaftler*innen, die lieber nicht ins Visier der Behörden geraten würden. Sie berichten anonym oder legen grossen Wert darauf, ihre Aussagen zu kontrollieren.

Als Martin allein durch den Iran reist und ich mangels Visum von der Schweiz aus recherchiere, kommuniziere ich mit einem Umweltaktivisten nur über verschlüsselte Messenger und notiere mir elektronisch keine Namen. In der Rangliste der Pressefreiheit liegt der Iran auf dem fünftletzten Platz. Im Januar 2018 wurden dort etliche Naturschützer* in nen inhaftiert und der Spionage verdächtigt. Im Gefängnis wurden sie gefoltert und später ohne faire Verfahren zu langen Haftstrafen verurteilt. Reporter ohne Grenzen rät dazu, in repressiven Ländern möglichst wenig digitale Spuren zu hinterlassen, Telefonnummern nur mit Alias zu speichern und Anruflisten zu löschen.

Zur Sicherheit schickt mir Martin aus dem Iran immer wieder Bilder in die Schweiz und löscht sie dann auf seinen Kameras und Speicherkarten, um Menschen zu schützen, sollte er kontrolliert werden. Als er mehr über die Trockenheit am Urmiasee erfahren will, sucht er Kontakt zu einem Wissenschaftler. Doch über die Wasserkonflikte und staatliche Fehler zu sprechen, ist gefährlich. 2011 wurden im Zusammenhang mit Kundgebungen für die Rettung des ehemals sechstgrössten Salzsees der Erde mehrere Hundert Menschen inhaftiert, gefoltert und verurteilt. Es erstaunt uns nicht, dass der Forscher nach einigen Nachrichten ablehnt.

Freiheit in der Abwärtsspirale

Wie können wir Medienschaffende ohne Angst vor Konsequenzen berichten? Als Journalisten aus der Schweiz geniessen wir Privilegien. Und als Fahrradreisende bleiben wir – zum Beispiel an Grenzübergängen – weitgehend unter dem Radar.

Für freie Journalist*innen stehen auch andere Fragen im Vordergrund: Wie komme ich in einer sich in der Abwärtsspirale befindend Branche finanziell über die Runden? Wie finanziere ich Recherchen, deren Resultate völlig offen sind? Darf ich mich von NGOs oder Unternehmen zu Pressereisen einladen lassen? «Für mich sind solche Reisen eine Möglichkeit, in abgelegene Regionen zu gelangen und über die NGO mit Menschen in Kontakt zu kommen, die sonst schwierig zu finden wären», sagt Philipp Lichterbeck. Er arbeitet in Brasilien und Lateinamerika als freier Reporter und berichtet über Umweltprobleme. «Klar werde ich dadurch unter Umständen auch zu einem Vertreter der Interessen einer NGO», gesteht er. «Aber viele Reisen bezahlt dir keine Zeitungsredaktion mehr. Ich war beispielsweise mit einer NGO in Kolumbien bei Kaffeebauern, die CO2-Zertifikate verkauften. Viele meiner Kund*innen druckten die Geschichte, konnten oder wollten die Reise aber nicht finanzieren. Also liess ich mich von der NGO einladen, die eine Pressereise organisierte.»

Umso wichtiger sei es, der journalistischen Grundpflicht nachzukommen. Egal, ob im In- oder Ausland, egal, ob NGOs Reisekosten übernehmen, Kontakte vermitteln oder Aktivist* innen Übernachtungen anbieten: «Ich darf nichts schönfärben, muss auch negative Aspekte wiedergeben», sagt Lichterbeck. «Im Fall der Kaffeebauern etwa die Kritik, die es am Handel mit CO2-Zertifikaten gibt, oder dass das Programm nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist.» Es sei selbstverständlich, die Finanzierung einer Pressereise transparent zu machen und allfällige Einschränkungen oder Instrumentalisierungsversuche für die Leser*innen verständlich zu machen.

Das bestätigt Meret Michel, die seit 2018 als freie Journalistin vom Libanon aus über den Nahen Osten berichtet. Sie betont, dass es für NGOs oder Politiker*innen ja auch legitim sei, zu versuchen, die eigenen Positionen und Narrative in die Öffentlichkeit zu bringen. «Ich mache mir dabei immer bewusst, welche Interessen und Hintergründe eine Auskunftsperson hat», sagt Michel. «Ich muss aber auch beachten und transparent machen, wenn Menschen in gewissen Situationen nicht frei sprechen können. Manche zensieren sich im Gespräch selbst, wenn eine Aufsichtsperson oder eine Übersetzerin dabei ist, die von den Behörden mitgeschickt wurde.»

Zurück zum Selfie von Bozkurt. Nicht immer können wir uns unterwegs aussuchen, mit wem wir fotografiert werden. Aber solche Bilder gehören zum Beruf, sie gehören zum Anstand. Es liegt an uns, zu zeigen, dass die Nähe auf dem Bild nicht bedeutet, dass wir den Menschen selbst nahestehen – oder gar ihren Ideen oder ihrer politischen Zugehörigkeit. Wir halten Distanz und strahlen nicht in die Kamera. Und sich dann wieder auf die Fahrräder zu schwingen, selbst wenn wir uns gegen Schneegestöber wehren müssen, ist wie eine kleine Erlösung.