Luca Pollice (43) wohnt in Bruzzano, Italien, produziert veganen Käse und träumt davon, das Alphabet abzuschaffen.
aufgezeichnet von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bild) – in Das Magazin, 30. April 2022
Seit langem nenne ich mich einfach Luciente. Diesen Namen habe ich dem feministischen Science-Fiction-Klassiker «Woman on the Edge of Time» von Marge Piercy entnommen – ein Buch, das ich vor vielen Jahren zum ersten Mal gelesen habe und das mich tief geprägt hat. Es erzählt die Geschichte einer Zukunft, in der viele der Ziele der radikalen politischen Bewegungen aus den Siebzigerjahren erfüllt wurden: das Ende von Umweltverschmutzung, Rassismus, Sexismus, Imperialismus, Totalitarismus, Ungerechtigkeit.
Bis diese Utopie real wird, lebe ich davon, veganen Käse zu produzieren. Ich nenne meine Produkte Nonformaggi, weil sie gut schmecken sollen, aber nicht unbedingt den Geschmack oder die Textur von Käse imitieren müssen. Dabei experimentiere ich gerne und versuche immer wieder, neue Produkte zu entwickeln, aktuell eine Art vegane Mortadella. Auch an eine vegane Version des Appenzellers würde ich mich gerne wagen.
Die Nonformaggi bestehen aus Cashewnüssen und unterschiedlichen Tofu-Arten. Manche verkaufe ich frisch, aber am besten schmecken sie, nachdem sie rund sechzig Tage gereift und einen sehr intensiven Geschmack entwickelt haben. Pro Woche produziere ich etwa hundert Nonformaggi, von deren Verkauf ich einigermassen leben kann. Ein Auto besitze ich nicht, ich liefere mit dem Velo aus.
Produziert wird in Cormano, aber ich lebe im Mailänder Stadtteil Bruzzano, gemeinsam mit meiner Mutter Antonella. Sie ist achtzig Jahre alt. Mein grosser Wunsch ist ein Obstgarten, der mich das ganze Jahr über ernährt. Dieser Traum treibt mich an, auch wenn es sehr schwierig wird, mir den Wunsch zu erfüllen. Doch ich will es versuchen, und deshalb produziere ich seit rund zehn Jahren tagtäglich Nonformaggi.
Zuvor hatte ich ganz unterschiedliche Berufe, um mich über Wasser zu halten, als Kleiderverkäufer oder Paketlieferant. Als ich noch jung war, ging ich regelmässig als Aktivist auf die Strasse, um für die Rechte von Tieren zu protestieren. Doch dafür habe ich keine Zeit mehr. Stattdessen widme ich mich der Arbeit und lese viel – über die Geschichte der Menschheit, die Entstehung patriarchaler Gesellschaften oder die Ursprünge von Gewalt und Herrschaft. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Gemeinschaft und nicht die Konkurrenz im Vordergrund steht. Ein System, das die Sorge zur Umwelt und den Mitmenschen wertschätzt und belohnt. Mir ist bewusst, dass ich ein Träumer bin, aber damit habe ich kein Problem.
Zugegeben, manche meiner Träume sind etwas merkwürdig, vielleicht sogar verrückt. Zum Beispiel möchte ich das Alphabet abschaffen. Viele unserer Buchstaben tragen eine Geschichte von Ausbeutung und Herrschaft in sich. So stammt das H wohl von Hieroglyphen des Stachelstocks ab, einem Instrument, mit dem man früher Tiere antrieb, und das A von einem Stierkopf. Mir ist bewusst, dass man mit seinen Träumen Kompromisse machen muss. Ich muss ja auch Geld zum Leben verdienen. Gleichzeitig will ich meine Zeit aber damit verbringen, Gutes zu kreieren und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.