Im Sommer 2021 wüteten auf der griechischen Insel Euböa Waldbrände. Das bedroht die Existenz der Menschen, die trotzdem nicht aufgeben.
von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bild) – in Surprise Nr. 523
Unter den Schuhen knirscht es. Überall liegen Scherben am Boden. «Das hier war mein Vorratsraum», erklärt Agisilaos Vulgaris und deutet auf ein paar Tassen und Teller, die zersplittert auf einem kleinen Regal aus Metall herumliegen. «Dort drüben stand mein Bücherregal. Und hier war unser Klavier.» Er zeigt auf den Raum vor einer schwarzen Wand im Wohnzimmer – zwischen verkohlten Backsteinen und Drähten liegen bloss noch Teile eines Klaviers. Den Rest haben Altmetallhändler in den letzten Wochen bereits abgeholt. «Mein jüngster Sohn spielte gerne darauf. Nun will er nie mehr ein Klavier anfassen», sagt Vulgaris.
Seit vierzig Jahren wohnte der 65-jährige Schreiner und Kommunist in diesem Haus mitten im Wald oberhalb von Psaropouli, einem kleinen Küstendorf im Norden der Insel Euböa. Umgeben von Kiefern und in der Nähe einer Quelle hatte er sich hier über die Jahre eine kleine Oase aufgebaut. Doch im letzten August verlor er alles. Damals brannten auf Euböa während zehn Tagen die Wälder. Auf 50 000 Hektaren, einer Fläche so gross wie der Kanton Basel-Landschaft, fielen hunderttausende Kiefern und zahlreiche Olivenhaine den Flammen zum Opfer – und mit ihnen die Existenzgrundlage der meisten hier lebenden Menschen. «Nordeuböa ist praktisch abgebrannt», erzählt Vulgaris, während er mit seinen Turnschuhen da in den Trümmern herumscharrt, wo früher seine Küche war. «Es stehen zwar noch einige Bäume, aber die sind alle tot.» Dass sein Daheim nicht verschont bleiben würde, war ihm bewusst. Als das Feuer sein Haus erreichte, befand sich Vulgaris zum Glück bereits am Strand und versuchte, gemeinsam mit anderen Menschen aus dem Dorf die dortigen Häuser zu schützen. «Hier im Wald war es viel zu gefährlich», sagt er und zeigt auf die Bäume, die ringsherum noch stehen. Bereits einige Tage zuvor dachte er, dass die Flammen nun auch sein Zuhause erreichen würden. «Doch als ich hierherfuhr, um mir die Verwüstung anzuschauen, war alles noch in Ordnung. Zwei Tage später war alles weg.»
Anfangs war Vulgaris wie gelähmt. «Ich fragte mich, was das hier ist», erinnert er sich und blickt um sich. «Es fühlte sich nicht wie mein Zuhause an. Ich hatte keine Beziehung mehr zu diesem Ort.» Dieser Ort war für Vulgaris nicht einfach ein Haus in einem Wald. Hier wollte er vor Jahrzehnten eine kleine Kommune gründen. Zusammen mit anderen baute er Häuser, stellte Solarpanels auf, errichtete eine Werkstatt und leitete das Quellwasser um. Sogar ein kleiner Swimmingpool kam irgendwann dazu. Nächtelang diskutierten Vulgaris und seine Freund*innen darüber, wie sie ihre Gemeinschaft gestalten wollten. Doch immer mehr drifteten die Visionen auseinander, die Mitbewohner*innen suchten ihr Glück anderswo. Zurück blieben nur er, seine zweite Frau und der jüngste Sohn.
«Für Griechenland sind Waldbrände ein riesiges Problem», sagt Ioannis Gitas. Der 55-Jährige ist Professor für Forstwirtschaft an der Universität Thessaloniki und untersucht seit Jahren die Brände im Land. «Das letzte Jahr war das schlimmste.» Ob der Klimawandel daran schuld sei, liesse sich mit den bisherigen Daten nicht genau beweisen, meint Gitas. Das Problem: Aufzeichnungen über die Häufigkeit von Waldbränden in Griechenland gibt es erst seit der Jahrtausendwende, systematische Messungen des Ausmasses und der Intensität von Bränden gar erst seit 2016. Deshalb liessen sich noch keine klaren Trends erfassen, so Gitas.
Derweil warnen die Berichte des Weltklimarats: Die Mittelmeerregionen werden mit dem Klimawandel trockener und noch heisser, was zu mehr Waldbränden und sogenannten «Megafeuern» führt. Genau das geschah im letzten Jahr fast gleichzeitig in Italien, in der Südwesttürkei und in Griechenland. «Wir hatten seit Juni mehrere Hitzewellen und Dürreperioden», sagt Gitas. «Das Resultat war eine sehr trockene Vegetation.» Doch Gitas zählt auch andere Faktoren auf, welche die Entstehung von Waldbränden begünstigen und nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, sondern mit schlechtem Management. «Seit Jahren werden nicht genügend Ressourcen eingesetzt, um Feuer zu verhindern und effizient zu bekämpfen.» Die Wälder seien nicht gut bewirtschaftet. Am Boden liege zu viel brennbares Material herum. Ein willkommenes Futter für die Flammen. Um das zu beheben, fehlten der Regierung jedoch die Ressourcen. «Sie hofft einfach jedes Jahr, dass es ein gutes Jahr wird.»
Hinzu kommt: 1998 wurde in Griechenland die sogenannte Waldfeuerwehr aufgelöst. Dabei sind sich Wissenschaftler*innen und Förster*innen einig: Waldbrände lassen sich am besten direkt beim Brandherd stoppen. Ist das Feuer erst einmal bei den Dörfern angekommen, ist es oft zu spät. Doch um diese Brandherde schnell zu entdecken und mit dem Löschen zu beginnen, braucht es Menschen, die sich mit den lokalen Gegebenheiten auskennen und sofort reagieren können. Ohne die Unterstützung der Feuerwehr ist das jedoch schwierig. «Dieses Feuer hätte problemlos aufgehalten werden können», echauffiert sich Babis Tsivikas, Präsident der lokalen Bauerngewerkschaft. «Der Klimawandel hat damit nichts zu tun.» Auf der Insel gebe es jedes Jahr Brände. Doch mit der Hilfe der lokalen Bevölkerung und Löschflugzeugen aus Athen liessen sich diese meist schnell löschen. «Dieses Mal sind keine Flugzeuge gekommen. Auch am Boden gab es keine Unterstützung. Nichts.»
Protest gegen die Regierung
Tsivikas ist in Nordeuböa aufgewachsen. Wie viele andere hier arbeitete er nebenbei als Harzsammler in den Kiefernwäldern. Mit ausgeklügelten Systemen fangen sie das Harz der Aleppokiefern auf, welches für die Herstellung von Leim und Lacken verwendet wird. Das Sammeln von Harz ist eine der Haupteinkommensquellen im Norden Euböas. Achtzig Prozent der griechischen Harzernte geschieht hier. «In der Region leben etwa 800 Familien vom Harzsammeln», sagt Tsivikas. «Nun wird es mindestens 25 Jahre dauern, bis diese Familien wieder arbeiten können.» Auch Imker*innen sind betroffen. Über 5000 Bienenvölker verbrannten in den zehn Tagen, an denen das Feuer wütete. Zudem dürfen Bäuer*innen ihr Vieh in den nächsten zehn Jahren nicht mehr in den abgebrannten Wäldern weiden lassen, um die Regeneration der Kiefern nicht zu beeinflussen.
«In Euböa drehte sich alles um den Wald», sagt Tsivikas. «Die Zerstörung ist immens. Doch wir versuchen, stark zu bleiben und vor allem hier zu bleiben.» Tsivikas prangert das Versagen der Regierung an. Seit Monaten organisiert er Proteste, um staatliche Unterstützung und Entschädigung zu erhalten. Sie alle sind sich einig: Man hat sie im Stich gelassen. Weil gleichzeitig ausserhalb von Athen ein weiteres Megafeuer loderte, stand das Feuer auf Euböa nicht zuoberst auf der Prioritätenliste. «Wir erhielten SMS, dass wir uns in Sicherheit bringen und unsere Häuser verlassen sollen. Doch wer sich daran hielt, stand anschliessend meist vor einem abgebrannten Zuhause.»
Seither blockieren Tsivikas und andere Bäuer*innen immer wieder die Strassen auf der Insel, um auf ihre Not aufmerksam zu machen, und treffen sich regelmässig in Agia Anna, um sich zu organisieren und Aktionen zu planen. Doch die Versprechen und Entschädigungen der Regierung fallen weit hinter ihre Erwartungen zurück. Zuletzt bot Athen ein Programm für rund 500 Menschen während drei Jahren an – in den Augen von Tsivikas und seinen Mitstreiter*innen zu wenig. «Es gibt auf dieser Insel keine andere Arbeit. Wenn sich nicht dank staatlicher Hilfe etwas ändert, müssen viele in den nächsten vier oder fünf Jahren die Insel verlassen.»
Bereits haben einige Bewohner*innen Euböa den Rücken gekehrt. Sie versuchen in Athen, Thessaloniki oder im Ausland Arbeit zu finden. Andere organisieren sich in Aktionsgemeinschaften, um jenen zu helfen, die es besonders hart getroffen hat.
Auch in Psaropouli wurde eine solche überparteiliche Aktionsgemeinschaft ins Leben gerufen und in einem ehemaligen Geschäft ein Lager eingerichtet. Lebensmittel werden in Plastiksäcken an alle ausgehändigt, die vorbeikommen. An einer Garderobenstange hängen frisch gewaschene Kleider, an der Wand stapeln sich Hygieneartikel. Auch 900 Olivenbäume wurden aus Deutschland gespendet. Sie werden an jene verteilt, deren Haine abgebrannt sind.
«Viele konnten nicht einmal eine Unterhose aus ihren Häusern retten», erzählt Ingrid Prügger. Die pensionierte Österreicherin lebt seit Jahrzehnten im Dorf und hilft in der Aktionsgemeinschaft mit. «Das Feuer kam mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit. Es hatte eine Kraft und Macht. Ein Feuersturm, der alles hineinzieht. Furchtbar.»
Erst Feuer, dann Regen
Am Eingang der Aktionsgemeinschaft steht eine verbrannte Kiefer mit Weihnachtsschmuck. Freiwillige dekorieren den Baum für den Karneval um. «Wir wollten natürlich nicht einen weiteren Baum fällen, wenn wir schon so viele verloren haben», sagt Prügger. Sie erzählt von der Hilfsbereitschaft, die während und nach der Katastrophe aufkeimte. Man griff sich gegenseitig unter die Arme. Als die Hilfe der Feuerwehr ausblieb, löschte man gemeinsam die Brände, die Häuser und Dörfer bedrohten. War ein Dorf geschützt, fuhr man weiter zum nächsten. So konnte vielerorts das Schlimmste verhindert werden – trotzdem wurden hunderte Häuser und Kirchen zerstört. Wenige Häuser vom Lager der Aktionsgemeinschaft entfernt liegt die Taverne «Zum Fischer». Die Stühle sind leer, die Kühlschränke abgeschaltet. «Ich bin jeden Tag hier, aber es kommt niemand mehr», sagt Ioanna Theodorou. «Die Locals haben kein Geld, um im Restaurant zu essen, und Tourist*innen kommen wohl auch dieses Jahr keine.» Die 53-jährige gelernte Schreinerin führt ihre Taverne seit über zwanzig Jahren. Fünfzehn Apartments besitzt sie für den Sommertourismus. «Nach dem Feuer riefen mich meine Stammgäste an und sagten, dass sie nicht mehr kommen möchten», erzählt Theodorou. «Sie wollen nicht sehen, wie hier alles abgebrannt ist. Was will man da tun?»
Auch Theodorou ist wütend über das Verhalten der Regierung. Premierminister Kyriakos Mitsotakis rühmt sich damit, dass bloss drei Menschen im Feuer umkamen – zudem seien «nur Häuser und Wälder» verloren gegangen, aber keine Gemeinschaften. Für Theodorou und die Menschen in Nordeuböa ist das blanker Hohn. Denn mit den Wäldern ist die Existenzgrundlage der gesamten Gemeinschaft verbrannt.
So ist die Katastrophe auch dann nicht zu Ende, wenn das letzte Feuer gelöscht ist. «Einige Wochen nach dem Feuer regnete es während zwei Tagen», erinnert sich Theodorou. «Es war nicht viel Regen, doch das ganze Dorf wurde überschwemmt.» In ihrem Garten staute sich das Wasser knietief, Schlamm sammelte sich überall. Im Dorf wurden Brücken weggeschwemmt, die Strandpromenade war verwüstet. Diese Überschwemmungen sind eine typische Folge von grossen Waldbränden. Denn ohne Vegetation und Bäume fliesst das Regenwasser ungebremst die Hänge hinab, reisst die oberste Erdschicht mit und überflutet Strassen und Dörfer. Auch hier hat die Regierung zu spät reagiert und fragwürdige Schutzmassnahmen eingerichtet.
Wo bleibt in all dem die Hoffnung? «Ich glaube, wir können all das wieder aufbauen», sagt Agisilaos Vulgaris, der Schreiner und Kommunist aus dem kleinen Küstendorf im Norden der Insel Euböa, während er einen jungen Baum aus seinem Pickup lädt. Klar habe er alles verloren, doch den Wiederaufbau nimmt er bereits wieder in Angriff. «Ich bin noch jung. Und mit diesem guten Quellwasser werde ich vielleicht sogar über hundert Jahre alt.» Vulgaris setzt den Baum ins Loch, schaufelt Erde hinein und blickt zuversichtlich um sich. «Die Hoffnung ist wieder aufgekeimt.» Rund um sein zerstörtes Haus blühen die ersten Blumen und verkünden den Frühling. «Natürlich bin ich ein Optimist. Das ist das einzige, worüber ich wirklich selber entscheiden kann.»