Warum zwei Schweizer mit journalistischer Mission um die Welt radeln. Was ihren Trip von einem «normalen» Reiseabenteuer unterscheidet. Und wie sie mit den Erwartungen von Unterstützern und Aktivistinnen umgehen.
von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bild) – in Schweizer Journalist:in Nr. 01.2022
Es ist Anfang Februar. Ich sitze irgendwo im Balkan in meinem Zelt und versuche, mehr oder weniger warm durch die Nacht zu kommen. Vor mir liegt der Laptop, mit dem ich mir täglich Notizen zu Recherche, Gesprächen, Erlebtem und Gesehenem mache. Ich kann meinen Atem im Schein der Stirnlampe sehen. Nach zehn Minuten tippen werden die Finger langsam klamm. Einen richtigen Text zu schreiben – daran ist nicht zu denken. Wenigstens kann ich dank Smartphone-Hotspot noch ein paar Emails an Kontakte, Wissenschaftler*innen oder NGOs schreiben, um die nächsten Stationen aufzugleisen. Ich hoffe auf eine schnelle Antwort, um nicht all zu lange im Ungewissen zu bleiben. Und vor allem, um keine unnötigen Umwege fahren zu müssen.
Denn Umwege sind während dieser Reise vor allem eins: unglaublich anstrengend. Seit Anfang Januar befinde ich mich mit dem Fotografen Martin Bichsel auf einer journalistischen Fahrradreise. Unser Ziel: Ulaanbaatar in der Mongolei. In zehn Monaten wollen wir aus der Schweiz via Balkan, Türkei, Iran, Zentralasien und Russland dort ankommen. Fast täglich sitzen wir dafür im Sattel. Und doch soll es nicht nur ums Strampeln gehen – geschweige denn um unser «Abenteuer». Unser Antrieb sind viel mehr die Klimareportagen, die wir aus den durchquerten Ländern realisieren – und am Schluss in einem Buch vereinen sowie von unterwegs in Zeitungen und Magazinen veröffentlichen.
Doch wenn ich die Stirnlampe abschalte und meine Hände im Schlafsack wärme, geistert in meinem Kopf die Frage herum: Ist das hier wirklich Journalismus oder doch ein kleiner Ego-Trip, dem wir ein journalistisches Mäntelchen umlegen? Will ich mit dem Framing der «journalistischen Fahrradreise» einfach mein berufliches Gewissen beruhigen, während ich ein knappes Jahr durch die Welt radle, mir eine fremdfinanzierte Auszeit gönne und – eben! – ein kleines Abenteuer erlebe?
Journalismus aus dem Sattel
Tatsache ist: Martin und ich sind sicherlich nicht die ersten, die mit dem Fahrrad aufbrechen und dabei Kamera und Laptop in den Taschen haben. Es gibt genügend Menschen, die jedes Jahr zu Fuss, mit Fahrrad, Motorrad oder mit dem Kajak irgendwo hinreisen. Viele davon behalten das Erlebte im engen Kreis. Andere schreiben Blogs, Bücher oder ganze Magazine. Sie verfassen Reiseberichte und veröffentlichen Bilder der schönsten Sonnenuntergänge und der wilden Natur. Ebenso ist es für uns natürlich ein kleines Abenteuer – insbesondere, wenn meine bisher längste Fahrradtour eine Woche dauerte.
Doch bereits als ich mich vor über einem Jahr zum ersten Mal mit Martin treffe, um die Idee einer solchen Reise zu besprechen, weiss ich, dass blosses Fahrradfahren und Geschichten darüber zu schreiben für mich zu wenig hergibt. Falls Martin tatsächlich mit mir über 15’000 Kilometer durch die halbe Welt fahren will, brauche ich ein journalistisches Projekt – einen inhaltlichen roten Faden, der uns anleitet. Auch wenn ich die schöne Natur und Begegnungen mit freundlichen Menschen genau so schätze wie andere, wollte ich Journalismus aus dem Sattel machen.
Also tüftelten Martin und ich in den folgenden Monaten an einem Konzept, mit dem wir beide glücklich werden könnten. Martin – ein passionierter Fahrradreisender mit etlichen zehntausend Kilometern in den Waden – wollte seit Jahren in die Mongolei. Es zieht ihn förmlich in diese endlosen und menschenleeren Steppen, die er mit seiner Kamera einfangen will. So war die Route bereits früh mehr oder weniger vorgegeben. Thematisch waren wir offener. Also zeichneten wir Mindmaps, machten Vorrecherchen und führten Diskussionen darüber, welcher thematische und journalistische Blickwinkel stimmig sein könnte – welche Themen und Fragen zu uns, unserer Arbeitsweise und zur Route passen könnten.
Nach etlichen Schlaufen landen wir beim globalen Problem der Klimaerhitzung und den damit verwobenen lokalen Herausforderungen für Menschen, Gesellschaft und Umwelt. Waldbrände, Wasserknappheit und Widerstand interessieren uns. Wir wollen über Ernteausfälle, Luftverschmutzung und Gletscherschmelze berichten. Und so die Komplexität der Klimaerhitzung in den bereisten Ländern mit Text und Bild greifbar machen. Soweit die Idee.
Limitierung als Brennglas
Als Selbständige ohne signifikante finanzielle Reserven stellte sich als nächstes die Frage der Finanzierung. Doch offenbar überzeugte unsere Idee genügend Menschen. Mit einem sehr erfolgreichen Crowdfunding konnten wir rund 45’000 Franken sammeln, um die Reise- und Recherchekosten zu sichern sowie Teile der Buchproduktion zu decken.
Gerade hier spielte uns wohl die Verbindung zwischen Fahrradreise und journalistischem Projekt in die Karten. Während sich manche primär vom Reiseaspekt überzeugen liessen, spendeten andere nur, weil inhaltlich etwas Journalistisches zu erwarten ist. Ein professionelles Video, einige Medienpartner und gut vernetzte Zugeneigte sorgten zudem für die nötige Reichweite. So gelang es, weit über das persönliche Umfeld hinaus Menschen zu motivieren, sich frühzeitig ein Buch oder ein fotografisches Printprodukt zu sichern und unser Projekt damit ins Rollen zu bringen.
Ein grosses Privileg, das uns die nötige Freiheit gibt, über ein Jahr lang intensiv an unserem Vorhaben zu arbeiten. Gleichzeitig generiert diese Unterstützung einen konstanten inneren Anspruch, relevanten, lebendigen und erhellenden Journalismus zu betreiben.
Gerade deshalb geistert wohl die Eingangsfrage im Zelt weiter herum. Es gibt Momente, wo wir mehrere Tage nur Fahrrad fahren und die Landschaft geniessen – oder einfach effizient zum nächsten Rechercheort gelangen wollen. Dann schleichen sich nachts Zweifel in die Träume. Sind wir noch am Arbeiten oder reisen wir schon? Publizieren wir genug? Treffen wir die richtigen Menschen? Ist das alles zu oberflächlich?
Darauf folgen Tage, an denen wir mehrere Interviews führen, recherchieren, Texte schreiben und interessante Orte und Menschen fotografieren. Schnell legen sich die Zweifel wieder – und ich nicke abends ob der ganzen Fülle an Informationen weg.
Täglich befinden wir uns so auf einer Schneide zwischen Reise und journalistischer Recherche – was uns damit von anderen Reisenden, die primär ihre Tour, ihr «Abenteuer» dokumentieren, unterscheidet. Unser inhaltlicher Fokus erlaubt uns im Gegenzug einen besonderen Blick auf unser tägliches Umfeld und die Orte, durch die wir radeln und an denen wir Halt machen. Martin fotografiert anders, als wenn er eine Sommerspritztour nach Hamburg macht. Und ich spreche mit anderen Menschen, besuche andere Orte, als wenn ich einen Städtetrip mache.
So interessiert uns auch weniger die historische Richèsse Venedigs als die gravierenden Umweltprobleme durch Übertourismus und die Gefahren durch den ansteigenden Meeresspiegel. An der Küste Kroatiens peilen wir gigantische Kohlekraftwerke oder Solaraktivistinnen an und lassen die Strände und Nationalparks links und rechts liegen. In den Dinarischen Alpen zwinge ich Martin, sämtliche Wasserkraftwerke entlang der Neretva zu fotografieren und spreche in Sarajevo oder Podgorica mit Aktivist*innen über die Gefahr von Plastikverschmutzung und Kleinwasserkraft.
Mit diesem Blick grenzen wir uns vom Reisejournalismus ab und berichten aus Ländern, die in den Schweizer Medien viel zu selten im Gespräch sind – und wenn, dann nicht primär mit den Themen, die wir in den Fokus nehmen.
Gleichzeitig setzt uns unser Fortbewegungsmittel eine brutale physische Grenze, die andere Auslandsreporter nicht überwinden müssen. Ohne Auto und Fugzeug können wir an einem Tag vernünftigerweise nur eine gewisse Strecke hinter uns bringen. Wir können längst nicht einfach überall hinfahren, wo es allenfalls wichtig, spannend oder hilfreich wäre. Gerade am Anfang mussten wir uns schnell von einigen Wunschdestinationen – der geplanten Lithiummine im serbischen Loznica oder den Aquafarmen an der griechischen Küste – verabschieden. So bestimmten unsere Oberschenkel den Inhalt mit und die Limitierung wird zum Brennglas.
Das bedeutet auch, dass wir gegenüber anderen Reporterinnen signifikante Nachteile haben. Wir sind in fast keinem der bereisten Länder Experten und haben ein vergleichsweise kleines Netzwerk. In vielen Ländern wird die Sprachbarriere ohne fremde Hilfe zuweilen fast unüberwindbar sein – und welche Übersetzer werden uns wohl im Sattel begleiten?
Subjektivität ist unvermeidlich
Wir haben nicht den Anspruch, aus knapp zwanzig verschiedenen Ländern investigativ zu berichten. Das wäre angesichts der Limitierungen schlicht vermessen. Stattdessen verlassen wir uns auf die Vorarbeit von Kolleginnen, auf Kontakte aus der Wissenschaft und den wichtigen Akteuren in unserem Themengebiet.
Wir berichten aus Kroatien über den jahrelangen Kampf der Bevölkerung gegen die Pläne der Regierung, neue Kohlekraftwerke aufzubauen. Dabei kommen Kampagnen zu Wort, die seit zehn Jahren laufen und für die kroatische Bevölkerung alles andere als neu sind. Wir sprechen mit Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen in Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Albanien über die hunderten von Kleinwasserkraftwerken, die an den wilden Flüssen des Balkans gebaut wurden und werden sollen. Ein Widerstand, den diese Menschen seit Jahren führen. Ein Thema, das in den lokalen Medien stattfindet, in der Schweiz aber kaum wahrgenommen wird.
Machen wir uns dabei zu Helfershelfern aktivistischer Bewegungen und verlassen das Terrain des Journalismus? Tatsächlich ist das Reisen im Sattel oft ein willkommener Türöffner zu Kontakten. «Was sind das für merkwürdige Menschen, die sich das antun?», denken sich einige und sind offener für Gespräche. Und vielerorts kommen wir nach dem Recherchegespräch auf andere Themen, werden zum Mittagessen eingeladen oder uns wird ein Schlafplatz vermittelt. Ist das ein Problem?
Unser Credo: Wir hören mit offenen Ohren und sehen mit neugierigen Augen. Doch wir biedern uns nicht an. Eine gefestigte Haltung hilft nicht nur beim Pässe abstrampeln, sondern auch im Journalismus. Wer keinen Kompass hat, geht sowohl der ministerialen Propaganda als auch der Öffentlichkeitsarbeit von NGOs schnell auf den Leim. Dass unser Kompass die Klimaerhitzung als ernsthaftes Problem und wichtiges journalistisches Thema anzeigt, heisst nicht, dass wir mit aktivistischem Eifer unterwegs sind – auch wenn uns das manche gerne unterstellen.
Es ist der Natur unserer journalistischen Fahrradreise geschuldet, dass darin eine etwas saftigere Portion Subjektivität enthalten ist. Kaum zu vermeiden, wenn man gerade nur dank einer Packung Chips und einer Flasche Cola die letzten Kilometer zum Rechercheort überstanden hat. Auch, dass wir die Auswirkungen des behandelten Themas fast täglich am eigenen Leib erfahren, färbt auf den eigenen Blick ab – etwa, wenn wir unsere erste Fahrt im Regen erst nach über einem Monat erleben. Oder wenn man bei der Ausfahrt aus Sarajevo, das regelmässig in den Top Ten der Städte mit der schlechtesten Luftqualität mitmischt, um Atem ringt.
Doch das genügt nicht, um die Reise zum Ego-Trip zu machen. Im Gegenteil: Wir sind auf unserer Fahrradreise dem Journalismus täglich dankbar, dass er uns ein gut gefütterter Mantel ist, der unser inneres Feuer schürt.