Maria Teresa Bortoluzzi (49) lebt mit ihrer Mutter in Ragogna, Italien. In ihrem Garten leitet sie ein Projekt für Menschen mit Beeinträchtigungen.
aufgezeichnet von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bild) – in Das Magazin, 3. September 2022
«This too shall pass» – auch das wird vorübergehen. Dieses Tattoo auf meinem Unterarm erinnert mich jeden Tag daran, dass es Hoffnung gibt. Und es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass ich auch schwierige Zeiten hinter mir lassen konnte.
Nach meinem Geschichtsstudium in Trieste arbeitete ich in Mailand im Verlagswesen. Mit dreissig dachte ich mir dann: Warum nicht in London leben? Also stürzte ich mich in diese wunderbare und herausfordernde Metropole. Aber es fiel mir sehr schwer, dort soziale Kontakte aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ich wurde nie wirklich glücklich. Als ich einige Jahre später meine Mutter Nella besuchte, entschied ich spontan, wieder nach Italien zurückzukehren.
Weil ich nicht alleine leben wollte, zog ich bei meiner Mutter ein, die im Dorf Ragogna am wunderschönen Fluss Tagliamento wohnt. Sie hatte sehr gemischte Gefühle über meine Rückkehr. Natürlich war sie glücklich, weil sie als Witwe recht einsam war. Aber sie fragte mich auch, ob ich wirklich all das Erreichte in London einfach zurücklassen wolle. In Ragogna gebe es doch nichts.
Nach einiger Zeit hatten wir jedoch die Idee, den grossen Garten meiner Mutter für andere zugänglich zu machen. In Italien gibt es viel Diskriminierung – gegen Migranten, gegen Menschen mit Beeinträchtigungen, gegen Frauen. Ich wollte einen offenen Ort schaffen für jene, die solche Herausforderungen meistern müssen. Einen Ort, wo wir durch Gartenarbeit gemeinsam wachsen können. Denn die Arbeit mit allem, was wächst und lebt, ist eine universelle Sprache.
So gründeten wir 2017 den Verein Orto Borto. Drei Betreuer unterstützen fünf junge Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Arbeit im Garten. Immer wieder kommen auch Freiwillige und packen mit an. So ist in unserem Haus immer etwas los. Jeden Tag entscheiden wir gemeinsam, wer die Esel betreut, Gemüse anpflanzt oder die Beete jätet. Alle sollen gemäss ihren Fähigkeiten eine Aufgabe finden, denn alle haben ihre Stärken und Schwächen. Auch ein gemeinsames Mittagessen bekommen wir hin.
In Ragogna habe ich die Bedeutung von Beziehungen neu gelernt. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es Hürden bei der Kommunikation. Es gibt Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten. Aber es tut gut, sich aufeinander einzulassen. Dabei entdecke ich die Güte in anderen. Das wünsche ich mir auch für die jungen Menschen in diesem Land. Viele Junge werden zum Schweigen gebracht. Sie sollen sich anpassen und funktionieren, nicht aufbegehren. Mit Orto Borto will ich auch ihnen einen Raum geben, um sich selbst zu finden und für das einzustehen, was ihnen wichtig ist.
Das Leben mit meiner Mutter ist nicht immer einfach. Sie ist eine starke und eigensinnige Frau, und wir mussten uns erst wieder neu kennen lernen. Sie ist definitiv keine typische Mama. Unser Haus gleicht eher einer Wohngemeinschaft, in der wir uns gegenseitig bereichern, aber auch herausfordern. Manchmal zanken wir uns, doch immer mit Liebe. Denn auch wenn wir streiten, teilen wir die gleichen Werte, und das ist das Wichtigste.