Ein Jahr ist es her, seit in Griechenland zerstörerische Waldbrände wüteten. Viele Menschen stehen seither vor dem Nichts und warten noch immer auf Hilfe.
von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Foto) – in WOZ Nr. 28/22
«Neun Tage lang wütete das Feuer rund um unser Dorf», erzählt Ioanna Theodorou. «Wie ein wildes Biest schlich es von der einen Seite der Bucht zur anderen. Überall lag Rauch in der Luft. Es war unglaublich heiss. Wir hatten solche Angst.» Die 53-jährige gelernte Schreinerin sitzt allein auf der Veranda ihrer Taverne in Psaropouli. Vor über zwanzig Jahren baute sie sich im kleinen Küstendorf am nördlichen Zipfel der Insel Euböa eine kleine Existenz auf. Sie investierte in ein paar Ferienwohnungen und eröffnete die Taverne «O Psaras» (Der Fischer), von der man aufs friedliche Meer blicken kann. Doch seit dem Feuer ist nichts mehr wie früher.
«Wegen des Rauchs wären wir fast erstickt. Immer wieder eilten wir an den Strand und versuchten, dicht über den Wellen zu atmen, um wieder frische Luft zu bekommen», erinnert sich Theodorou an die verheerenden Waldbrände vom August 2021. Damals brannten auf Euböa während zehn Tagen die Wälder. Auf 50 000 Hektaren, einer Fläche so gross wie der Kanton Baselland, fielen Hunderttausende Kiefern und zahlreiche Olivenhaine den Flammen zum Opfer. Kirchen, Bauernhöfe und Ferienhäuser brannten bis auf die Grundmauern nieder.
«All die schönen Wälder in der Umgebung sind verbrannt», sagt Theodorou. «Von einem Moment auf den anderen wurde unsere Lebensgrundlage zerstört.» Seit Monaten wartet Theodorou praktisch vergeblich auf Kundschaft. Jeden Tag sitzt sie auf einem der gemütlichen Stühle ihrer Taverne, aber es kommt niemand. «Wer will an diesem verwüsteten Ort schon Ferien machen?» Die Kühlschränke in der Küche sind längst ausgeschaltet – sie brauchen nur unnötig Strom.
Hilflos ausgesetzt
Eine halbe Autostunde südlich von Psaropouli liegt Agia Anna. Die Fahrt geht über kurvige Strassen, vorbei an verkohlten Stämmen und trockener Erde. Auf die eine oder andere Weise haben hier in der Gegend fast alle vom Wald gelebt, als er noch da war.
Vor dem Rathaus des Dorfs stehen Pick-up-Trucks in Reih und Glied. Aus ganz Nordeuböa sind an diesem Abend Menschen in das kleine Dorf hundert Kilometer nördlich von Athen gekommen. Harzsammler, Bäuerinnen und Tavernenbesitzer:innen wie Theodorou stehen in kleinen Gruppen, unterhalten sich, trinken Café frappé aus Plastikbechern, rauchen oder telefonieren.
Einer von ihnen ist Babis Tsivikas, ein kämpferischer Bauer mit üppigem Bart. Der Vierzigjährige ist Präsident der lokalen Bauerngewerkschaft und hat das heutige Treffen mitorganisiert. «Seit dem Feuer haben wir grosse Probleme», erklärt er mit nordamerikanischem Akzent. Seine Mutter kommt aus Nebraska, aufgewachsen ist er im Zentrum von Euböa. «Mit dem Wald verschwand die wichtigste Einnahmequelle für die Familien in dieser Region.» Viele der Anwesenden wissen nicht weiter. Ihre Ersparnisse schmelzen. Arbeit gibt es seit dem Feuer kaum noch.
Besonders die zahlreichen Harzsammler:innen werden noch jahrelang warten müssen, bis sie mit ihren ausgeklügelten Techniken wieder das Harz der Aleppokiefern gewinnen können, um es anschliessend für die Herstellung von Leim und Lacken zu verkaufen. In Nordeuböa wurden achtzig Prozent der griechischen Harzernte erwirtschaftet. «Jetzt wird es mindestens 25 Jahre dauern, bis die Wälder wieder zurück sind und damit die Arbeit», sagt Tsivikas, der selber nebenbei Harz sammelte. 25 Jahre, in denen die Betroffenen irgendwie anders über die Runden kommen müssen.
Mit Unterstützung von der Regierung rechnen hier die wenigsten, man fühlt sich abgehängt. Trotzdem geben die Versammelten den Kampf nicht auf. «Wir protestieren seit Monaten», sagt Tsivikas bestimmt. «Aber bis jetzt hören wir nur leere Versprechungen.» Bereits haben erste Familien der Insel den Rücken gekehrt und suchen in Athen oder Thessaloniki Arbeit.
Zwar versprach die Regierung in Athen ein Hilfs- und Arbeitsprogramm für rund 500 Menschen während dreier Jahre, auch Steuererleichterungen und Geld für zerstörte Häuser werden in Aussicht gestellt. «Aber das ist viel zu wenig», sagt Tsivikas und erntet von den Anwesenden Zustimmung. «Was machen wir, wenn die drei Jahre vorbei sind? Es gibt auf der Insel schlicht keine andere Arbeit.»
Denn der Wald ist die Lebensader von Nordeuböa. In den Flammen verbrannten über 5000 Bienenvölker, die den zahlreichen Imker:innen Einnahmen beschert hatten. Derweil dürfen Bäuer:innen in den nächsten zehn Jahren ihr Vieh nicht mehr in den abgebrannten Wäldern weiden lassen. Die Regeneration der Kiefern dürfe nicht beeinflusst werden. Aber das Futter ist teuer – und mit den gestiegenen Benzin- und Düngerpreisen sowie der grassierenden Inflation lohnt sich auch der Anbau von Tomaten und Melonen bald nicht mehr. Immer wieder versuchen die Bäuer:innen unter der Führung von Tsivikas, mit Strassenblockaden und Protesten auf ihre Not aufmerksam zu machen. «Wenn sich nicht schnell etwas ändert, werden noch mehr Menschen die Insel verlassen. Aber was wird dann aus diesem Ort?», sagt Tsivikas.
Vorbote der Zukunft
Die Menschen in Agia Anna verlieren kein gutes Wort über die liberal-konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Diese brüstet sich zwar damit, nach den Feuern in Rekordzeit Schutzmassnahmen gegen Überschwemmungen aufgebaut zu haben. Denn kaum waren die letzten Brandherde endlich erloschen, drohte das Wasser. «Einige Wochen nach dem Feuer regnete es während zwei Tagen», sagt Theodorou. «Es war kein grosser Regen, aber das ganze Dorf wurde überschwemmt.» Offenbar brachten die getroffenen Massnahmen herzlich wenig. Auf ihrem Smartphone zeigt Theodorou Bilder ihres Gartens, in dem sich das Wasser knietief staute. Der kleine Bach im Dorf schwoll zu einem reissenden Fluss an. Überall sammelte sich der Schlamm. Brücken wurden weggeschwemmt, die Strandpromenade verwüstet.
Die Naturereignisse vom vergangenen Jahr sind Vorboten der Zukunft. Denn mit der Klimaerhitzung werden Waldbrände in Griechenland nicht seltener. 2021 hatten bereits im Frühsommer mehrere Hitzewellen und Dürreperioden die Wälder und Wiesen ausgetrocknet. Und während die Menschen in Psaropouli und Agia Anna ihre Häuser vor den Flammen zu schützen versuchten, wütete nördlich von Athen ein weiteres sogenanntes Megafeuer – mit ein Grund, weshalb die Regierung kaum Ressourcen für die Bekämpfung der Brände in Euböa hatte. Auch in Italien und in der Südwesttürkei brannten im August 2021 riesige Flächen. Davor warnen die Berichte des Weltklimarats schon länger: Die Mittelmeerregionen werden immer trockener, heisser und anfälliger für Brände.
Wer die Menschen in Nordeuböa jedoch auf diese Zusammenhänge anspricht, erntet nur verständnisloses Kopfschütteln. «Der Klimawandel hat mit dem letztjährigen Feuer nichts zu tun», echauffiert sich Tsivikas. «Man hätte das Feuer jeden Tag problemlos löschen können.» Doch es sei einfach keine Hilfe gekommen – man sei von der Regierung und der Feuerwehr alleingelassen worden. Die gleichzeitig bedrohte Millionenstadt Athen habe geschützt werden müssen. Die wenigen Zehntausend Menschen in Nordeuböa hätten sich einfach in Sicherheit bringen und ihre Häuser verlassen sollen.
Als weiterer Faktor kommt die seit Jahren schlechte Bewirtschaftung der Wälder hinzu. Überall liegt zu viel brennbares Material herum – das ist Futter für die Flammen. Und es fehlt an Ressourcen, um Feuer frühzeitig zu verhindern und im ganzen Land effektiv zu bekämpfen.
Zudem sind Brände auf Euböa nichts Aussergewöhnliches – schon im Frühjahr gab es wieder die ersten Feuer. «Das gehört zum Lebenszyklus von Kiefernwäldern», sagt Tsivikas. Dank der lokalen Bevölkerung und Löschflugzeugen liessen sich die kleinen Brände meist schnell in den Griff bekommen. «Aber dieses Mal kamen keine Flugzeuge», sagt Tsivikas. «Und auch am Boden gab es keine Unterstützung. Nichts.»
Die Regierung von Kyriakos Mitsotakis rühmt sich damit, dass in den Feuern vom letzten Jahr kaum Menschen umkamen. Das Land hat die über hundert Toten der Waldbrände von 2018 nicht vergessen; diesmal seien «nur Häuser und Wälder» verloren gegangen, aber keine Gemeinschaften, liess Mitsotakis verlauten. Solche Aussagen sind für Ioanna Theodorou und Babis Tsivikas der blanke Hohn. Schliesslich sei mit den Wäldern auch die Existenzgrundlage der gesamten Lokalbevölkerung zerstört worden.
Spielball der Politik
Während für Mitsotakis die Klimaerhitzung – die sonst wenig Erwähnung findet – ein willkommener Sündenbock für die eigene Tatenlosigkeit ist, wird das Schicksal der Menschen in Nordeuböa zum politischen Spielball. Bei einem Besuch auf der Insel prangert der ehemalige linke Syriza-Ministerpräsident Alexis Tsipras die «Unfähigkeit des Staates» an. Die Menschen hätten «abgesehen von grossen Versprechungen in ihrem täglichen Leben nichts Greifbares gesehen». Es gebe keinen ernsthaften Versuch, ihre «grossen Wunden zu heilen». Unter Tsipras war die Situation jedoch kaum besser.
Im Fahrtwind der politischen Auseinandersetzungen fühlen sich die Menschen in Euböa zunehmend vergessen. Es grassieren Verschwörungstheorien über «grosse Pläne», die jetzt auf der verbrannten Erde realisiert werden könnten. Darüber, dass «die Eliten» eigentlich froh seien, wenn die Menschen die Insel verliessen. «Es ist keine schöne Situation», sagt Tsivikas. «Viele meiner Freunde nehmen seit den Bränden Medikamente, andere haben mit dem Trinken angefangen.»
Bei vielen seiner Mitstreiter:innen sei die Hoffnung auf Verbesserung verflogen. «Kaum jemand glaubt noch daran, dass sich in Griechenland etwas verändert», sagt Tsivikas. Er selbst hat noch nicht aufgegeben: «Ich bin Optimist. In allem. Man muss optimistisch bleiben, um etwas zu erreichen.»
Auch Ioanna Theodorou versucht, positiv in die Zukunft zu blicken – obwohl es wenig Anlass dazu gibt. «Die Situation ist eine Katastrophe», sagt sie. Überall in der Umgebung bleiben die Betten und Tische leer. Mit dem Krieg in der Ukraine und der steigenden Inflation habe ohnehin niemand mehr Geld, um sich Ferien oder ein Essen im Restaurant zu leisten. Reservationen aus dem Ausland sind dieses Jahr ausgeblieben. «Gestern Abend hatte ich zwei Gäste aus Holland, aber davon kann ich nicht leben», sagt Theodorou. Sie glaubt, die Menschen seien immer noch taub und würden noch gar nicht richtig realisieren, was der Waldbrand für die nächsten Jahre bedeutet. «Wir sind lebende Tote.»