Wo im August vor einem Jahr die Welt unterging

von Florian Wüstholz (Text) und Martin Bichsel (Bild) – in Saiten Nr. 324


Schon wieder Schnee. Es ist Mitte März und das türkische Küstenstädtchen Karasu ist noch im Winterschlaf. Draussen rauschen die Wellen des Schwarzen Meers, drinnen im Hotelzimmer klappern die Zähne. Der Wind pfeift durch die Fenster. Es gibt keinen Grund, diesen Aufenthalt weiter in die Länge zu ziehen. Also ein schnelles Frühstück essen, unsere sieben Sachen packen und aufsatteln. Die morgendliche Routine wärmt.

Eine weisse Schicht hat sich über Nacht auf den feinen Sandstrand gelegt. Als ich zu den Wellen laufe, spüre ich die doppelte Weichheit unter den dicken Winterschuhen. Schnee am Meer im März – irgendwie fühlt es sich wohlig an. Doch die Stadt ist wie ausgestorben. Die Läden sind geschlossen, die Strasse verschneit, die Hunde bellen. Es ist Wochenende. Wer nichts Wichtiges zu tun hat, bleibt lieber zuhause. «Allah ist gross. Das Gebet ist besser als Schlaf.» So ruft der Muezzin jeden Morgen.

Schneesturm am Schwarzen Meer. Die Küstenstadt Karasu ist an diesem Tag leergefegt – nur die Tauben gurren und die Hunde bellen.

Unser heutiges Ziel ist, warm und trocken zu bleiben. Und nach 80 Kilometern der hügeligen Küste entlang in Ereğli anzukommen. In weiteren sechs Tagen wollen wir dann in Bozkurt sein – die nächste Station unserer journalistischen Veloreise zu den Schauplätzen der Klimaerhitzung.

Die Kleinstadt wurde am 11. August 2021 von einer Überschwemmung verwüstet. Innert Sekunden stieg der Wasserpegel des Flusses Ezine um mehrere Meter. Menschen flüchteten auf die Dächer ihrer Häuser. Andere wurden in ihren eigenen vier Wänden eingesperrt oder von der Strasse fortgeschwemmt. Offiziell starben an diesem Tag 81 Menschen in der Region. Hunderte weitere bleiben auch Monate später noch vermisst.

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Am Strassenrand stehen Haselnusssträucher in Reih und Glied. Zwei bis drei Millionen Menschen leben von deren Früchten und drei Viertel der weltweit gehandelten Haselnüsse wachsen an diesen Ästen. Noch biegen sie sich unter dem schweren Schnee. Die Kälte steigt uns in die Finger, die Flocken wirbeln mal von links, mal von rechts.

Die Bucht von Ereğli ist schon von Weitem zu erkennen. Rauchschwaden qualmen aus dutzenden Kaminen. Das grösste Stahlwerk der Türkei läuft hier auch am Wochenende auf Hochtouren – geheizt mit der lokalen Zonguldak-Steinkohle. Der Schwefelduft ist uns bestens vertraut. Nach dem Risotto aus dem Kocher taucht die Abendsonne die Kohleberge und Wohnhäuser am Hang in ein willkommenes warmes Licht. Am nächsten Morgen ist die Strasse vereist.

In der Bucht von Ereğli wird Tag und Nacht Stahl hergestellt. Befeuert werden die Hochöfen mit lokaler Steinkohle.

Drei Tage später haben sich die Schneestürme etwas beruhigt. Wir spulen die berüchtigten Auf- und Abstiege der Küstenstrasse ab. Jeden Tag warten drei bis vier «Brünig» – unsere eigene Masseinheit für jeweils 400 Höhenmeter – auf uns. Ein bisschen Heimat in der Ferne. Der Ablauf ist immer gleich: Vom Meer geht es steil ein paar hundert Meter nach oben, dann ins nächste Tobel wieder hinunter, eine Brücke führt uns über einen Bach, dann geht es wieder in die Höhe, wir geniessen die Aussicht, trinken etwas, kochen manchmal, dann wieder eine kurze Abfahrt ins nächste Dorf.

An diesem Abend treffen wir beim letzten Aufstieg Jean-François. Er ist vor Monaten in Frankreich losgewandert und will nach Indien. An seinem Rücken sitzt eine Konstruktion, mit der er sein Gepäck hinter sich herziehen kann – Ersatzrad inklusive. Wir sprechen über Beziehungen, mentale Gesundheit, Heimweh, Familie. Mit uns zelten will er heute trotzdem nicht, der Umweg an den Strand ist ihm zu weit.

Kaum sind unsere Zelte aufgestellt, die Schlafsäcke ausgerollt und die Taschen verstaut, springe ich in die Wellen. Es ist eiskalt. Es ist wunderschön. Am Feuer wärmen wir uns. Es sind unsere letzten gemeinsamen Tage auf dem Velo. Mein Heimweh hat gesiegt.

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Kleine Dörfer ziehen an uns vorbei und der Schnee holt uns wieder ein. Von den Hängen sprudeln Bäche und rauschen Wasserfälle. Spuren von Erdrutschen und Steinschlägen mischen sich ins Bild. Entsprechend geht es der Strasse. Wasser dominiert diesen Ort – vor Regen ist man nie sicher. In Bozkurt fallen pro Jahr und Quadratmeter 1653 Liter Wasser aus den Wolken. Am 11. August 2021 fiel die Hälfte davon innerhalb von 48 Stunden.

Beim Gemeindehaus angekommen, wartet schon der Tee auf uns. Der Bürgermeister Muammer Yanık hat noch keine Zeit für uns, denn heute ist ein historischer Tag für die Türkei: der «Tag der Gefallenen». Man gedenkt der tausenden Toten der Schlacht von Gallipoli – und der in den letzten Jahren im Dienst Gestorbenen. Yanık hat heute etwas wichtigeres vor, als ein paar Velojournalisten zu bewirten.

Während wir auf Yanık warten, streifenwir mit einer Gemeindeangestellten durch dieStadt. Sie zeigt uns die Spuren der Verwüstung. Die Strassen sind noch immer schlammig und zerstört vom Unwetter. Ganze Häuserzeilen am Ufer fehlen. An den verbliebenen Häusern sieht man die Narben der Bäume und den Wasserpegel als feine braune Linie weit über den eigenen Köpfen. Der Kindergarten ist ebenso verschwunden wie die schönen Cafés im Zentrum. An der alten Brücke über die Ezine verhedderten sich an diesem Schicksalstag entwurzelte Baumstämme. Ein künstlicher Damm mitten in der Stadt – mit verheerender Wirkung. Immer wieder flimmern Videos und Bilder über die Handybildschirme. Tosende Videos gefüllt mit hellbraunem Wasser und Fassungslosigkeit.

Nun wird eine neue Brücke gebaut. Sie soll höher werden, damit alles unter ihr vorbeirauschen kann. Und man will der Ezine doppelt so viel Platz geben – die Häuser sind ja jetzt ohnehin nicht mehr da. So soll der Bach bei Hochwasser nicht mehr über die Ufer treten. Aber mit dem heutigen Schnee ist ans Bauen nicht zu denken. Stattdessen werden wir von den Bauarbeitern zu einem Tee in ihre Baracke eingeladen. Der Pressefotograf der 5000-Seelen-Gemeinde begleitet unseren Besuch, der für das Dorf offenbar genau so berichtenswert ist wie für uns die Folgen der
Klimaerhitzung.

Eine junge Familie im Containerdorf von Bozkurt. Auch Monate später leben viele Menschen in provisorischen Behausungen.

Wer in Bozkurt seine Wohnung verloren hatte, wurde in einer kleinen Containersiedlung am Stadtrand untergebracht. Eine 70-jährige Frau und ihre Tochter laden uns zum Tee ein. Die Mutter erzählt von ihren Albträumen. Kaum setzt der Regen ein, folgt die Panik auf dem Fuss. Auch die Kinder fürchten sich vor jedem Tropfen. Viele haben der Stadt den Rücken gekehrt – zu tief sind die Wunden.

Im Container nebenan lebt eine vierköpfige Familie. Die beiden Kinder sind neugierig und dem Vater kommen die Tränen, als er vom Tag des Unwetters erzählt. Die Strasse zu seinem Haus sei vollständig zerstört, darum lebt er mit der Familie hier. Seine Frau konnte er in letzter Sekunde warnen, bevor das Handynetz zusammenbrach. Ihr Arbeitsort lag direkt am Fluss in einem Keller.

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Irgendwann hat der Bürgermeister dann doch noch Zeit für uns. Sekretär und Pressefotograf begleiten uns ins Büro. Ein junger Lehrer übersetzt. Ich stelle Fragen über Verwüstung, Verantwortung, Massnahmen und Veränderungen. Yanık schaut zwischendurch immer wieder stolz auf den Fernseher an der Wand. Die Übertragung zeigt die Einweihung der «1915 Çanakkale» – der längsten Hängebrücke der Welt – just an jenem Ort, wo die Türkei vor 107 Jahren Grossbritannien, Frankreich und Griechenland zurückgeschlagen hat. Dass Bozkurt bald wieder erstrahlen wird, glaubt Yanık ebenso, wie dass er im besten Land der Erde lebt.